Durch Europa gleisen. Ein ganz besonderer Fensterblick.

Sep 26, 2023

Cindy Ruch: Europa mit dem Zug. Geheimtipps von Freunden
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Wer träumt davon nicht gerne? Sich einfach in den Zug setzen und mal die Welt an einem vorbeirauschen zu lassen. Zugfahren hat seine ganz eigene Romantik und eine ganze Reihe von Liebhabern, wie Film und Literatur beweisen – von Sendungen wie Eisenbahn-Romantik bis hin zu Grahams Greenes Orientexpress. Seitdem es die Eisenbahn gibt, bewegen sich Menschen mit Zügen von A nach B, sei es zum Arbeiten, zum Besuchen von Familie oder Freunden oder um in andere Orte und Länder zu gelangen. In Zeiten der Klimakrise und dem allgegenwärtigen Thema „Nachhaltigkeit“ kommt dem Zugfahren bereits jetzt eine wichtigere Bedeutung zu. Zugfahren ist (wieder) in und daran wird sich in Zukunft auch so schnell nichts ändern. Einfach mal das Auto in der Garage lassen und stattdessen auf den Zug umsatteln. Das dachte sich auch Herausgeberin Cindy Ruch, die in ihrem Reisehandbuch Europa mit dem Zug. Geheimtipps von Freunden allerlei Tipps von Freunden sammelt und dabei vor allem zum Zugreisen motiviert.

Dabei geht die Perspektive in alle Himmelrichtungen – in den Norden, Osten, Südosten, Südwesten und Westen. Zuvor empfiehlt Ruch das Interrailticket für Spontanreisende, gibt den Tipp, dass man auch zweigleisig fahren und das Auto auf einen Autozug verladen kann, und stellt Zugverbindungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz sowie in Lichtenstein vor. Die Seiten zu den Ländern sind allesamt gleich aufgebaut: Ein paar Fakten zum Land, eine kurze Vorstellung von ausgewählten Lieblingsstrecken, Infos zum Streckennetz, den Zügen, Preisen und Fahrkarten sowie zur Anreise und meist passende Bahnlektüre. Letzteres ist ein besonderes Schmankerl für alle Lese- und Literaturbegeisterten! Mal ist es Prosa, mal Stadtführer oder Reisehandbücher. Das Raffinierte dabei ist, dass die Bücher immer dem jeweiligen Land angepasst sind. Für das Reisen in Polen wird bspw. Unrast von Literaturnobelpreisträgerin Olga Tocarczuk empfohlen, für Spanien Fiesta von Ernest Hemingway.

Doch wohin geht’s denn jetzt überall? In alle Länder des Kontinents Europas. So einfach lässt sich das sagen. Nach Skandinavien und Finnland, auf die britischen Inseln und nach Irland, ins Baltikum und an den Balkan, nach Mittel- und Osteuropa, vom Mittelmeer bis an den Atlantik und sogar bis ans Schwarze Meer. Die einzelnen Zugstrecken, die dabei vorgestellt werden, machen – in Kombination mit den fantastischen Fotografien – richtig Lust, seinen Rucksack zu packen und zum nächsten Bahnhof zu radeln. Im Norden wird bspw. für die Zugstrecke von Oslo nach Bergen geworben, die das „massive Bergplateau der Hardanger Vidda“ für einen bereithält. Im Osten reizen „märchenhafte Landschaften“ wie in Tschechien, wie Zugreisefan Steffi schreibt. Im Südosten kann man Europas höchste Eisenbahnbrücke, das Mala-Rijeka-Viadukt mit 200 Meter Höhe, auf der Strecke von Belgrad nach Bar bestaunen. Und zwischen Barcelona und Bilbao, im Westen Europas, passiert man unzählige Landschaften, von der Halbwüste Bardenas Reales, dem Tal des zweitgrößten spanischen Flusses Ebro und dem Weinanbaugebiet La Rioja bis zu den Gebirgsausläufern der Pyrenäen. Ein Highlight sind auch die Zugstrecken über die Alpen, etwa von München nach Venedig oder Innsbruck nach Florenz.

Ein ganz besonderes Lob gilt dabei der Grafik. Die tollen frühlingshaften Farben sowie das übersichtliche Layout der Seiten sind sehr ansprechend und machen einem das Lesen leicht. Der kleine Gag, auf der Innenseite des Umschlags die Sternkarte abzudrucken, die eine Anspielung auf das Zugstreckennetz ist, ist pfiffig. Der damit verbundene Slogan „Heute Europa, morgen die Sterne“ ist jedoch mit Hinblick auf den gegenwärtigen Größenwahnsinn, den Weltraum erobern zu wollen, eine Spur zu viel und passt nicht zur Realität des geerdeten Bahnreisens.

Traurig ist die Tatsache, dass das Buch aufgrund der aktuellen politischen Lage schon beinahe ein Relikt ist. Denn nicht nur die vorgestellten Zugstrecken der Ukraine sind (für den Tourismus) buchstäblich außer Gefecht gesetzt, auch das Konzept, dass sich dahinter verbirgt – ein europäisches Zugstreckennetz, das keine Grenzen kennt – scheint zumindest bedingt wie eine Utopie. Und gleichzeitig sieht man dieses Netz und die Möglichkeiten, die unser heutiges Europa für uns bereithält: Sich in den Zug zu setzen, von Nord nach Süd oder Ost nach West zureisen und zu beobachten, wie Landschaften sich wandeln, wie Sprachen sich verändern und dabei vor allem die Vielfalt des Kontinents wahrzunehmen.

Europa mit dem Zug ist nicht nur ein klasse Buch, das man gerne verschenken mag. Es ist ein Reisehandbuch der besonderen Art – mit all seinen Länderkarten und stimmungsvollen Fotografien – und nicht zuletzt aufgrund des kurzen und bündigen, doch sehr informativen Inhalts. Ein idealer Reiseratgeber für alle, die Zugreisen lieben.

Cindy Ruch: Europa mit dem Zug. Geheimtipps von Freunden * Reisedepeschen 2021 * 192 Seiten * 22 Euro

Diese Rezension wurde am 21.04.2022 auf dem Blog des Mondo Kollektivs veröffentlicht.